9
Der Killer
Internationale Banden, die auf Projekte größeren Stils spezialisiert sind, verlegen sich nur selten aufs Töten.
Grundsätzlich kann man sogar behaupten, daß sie gar nicht töten, zumindest diejenigen nicht, die sie um einige Millionen erleichtern wollen. Sie wenden beim Diebstahl eher wissenschaftliche Methoden an, und die meisten ihrer Mitglieder sind Gentlemen, die keine Waffen tragen.
Gelegentlich töten sie jedoch, um miteinander abzurechnen. Jedes Jahr werden irgendwo ein oder zwei Verbrechen begangen, die nicht aufgeklärt werden können. Meistens wird das Opfer nicht identifiziert und unter einem offensichtlich falschen Namen begraben.
In diesen Fällen handelt es sich um einen Verräter oder um einen Mann, den der Alkohol geschwätzig gemacht hat und dem Fehler unterlaufen sind, oder aber um einen Komparsen, dessen Ehrgeiz die bestehenden Machtverhältnisse bedroht.
In Amerika, dem Land der Standardisierung, sind solche Beseitigungen nie das Werk eines Bandenmitglieds. Man wendet sich an Spezialisten, an sogenannte Killer, die wie die offiziellen Henker ihre Gehilfen und ihren Tarif haben.
In Europa ist das manchmal ähnlich gewesen. Unter anderem hat die berühmte Polenbande, deren Anführer auf dem Schafott gelandet sind, mehrfach die Dienste anderer Verbrecher in Anspruch genommen, um sich die Hände nicht mit Blut zu beschmutzen.
Maigret dachte daran, als er die Treppe hinunterging und sich ins Büro des Majestic begab.
»Wenn ein Gast wegen des Essens anruft, mit wem wird er dann verbunden?« fragte er.
»Mit einem speziellen Oberkellner, der für den Zimmerdienst zuständig ist.«
»Auch nachts?«
»Pardon! Von neun Uhr abends an versieht ein Angestellter den Nachtdienst.«
»Wo sitzt der?«
»Im Souterrain.«
»Bringen Sie mich hin!«
Wieder drang er in die Kulissen dieses für tausend Reisende konzipierten Luxusbienenstocks. In einem Raum, der an die Küche grenzte, fand er einen Angestellten vor einer Telefonanlage. Vor ihm lag ein Verzeichnis. Es war hier jetzt ruhig.
»Hat Kriminalobermeister Torrence Sie zwischen neun und zwei Uhr morgens angerufen?«
»Torrence?«
»Der Polizeibeamte, der sich in dem blauen Zimmer neben Nummer 3 aufgehalten hat«, erklärte fachgerecht die Bürokraft.
»Er hat nicht angerufen.«
»Und niemand ist hinaufgegangen?«
Diese Feststellung war wichtig. Torrence war innerhalb des Zimmers angegriffen worden, also von jemandem, der es betreten haben muß. Um ihm das Tuch vor den Mund zu drücken, hat der Mörder hinter seinem Opfer vorbeigehen müssen. Und Torrence hatte keinen Verdacht geschöpft.
Nur ein Kellner erfüllte diese Voraussetzungen, sei es, daß der Beamte ihn gerufen hatte oder weil er von selbst erschienen war, um den Tisch abzuräumen.
Maigret überlegte und stellte seine Frage anders.
»Wer vom Personal hat seinen Dienst vorzeitig verlassen?«
Der Telefonist war überrascht.
»Woher wissen Sie das? Es war reiner Zufall … Pepito hat einen Anruf erhalten, daß sein Bruder krank ist …«
»Um wieviel Uhr?«
»Gegen zehn …«
»Wo war er zu dem Zeitpunkt?«
»Oben.«
»Von welchem Apparat hat er das Gespräch angenommen?«
Man rief die Zentrale an. Der dortige Telefonist versicherte, keinerlei Verbindung mit Pepito hergestellt zu haben.
Das ging schnell! Dennoch blieb Maigret ruhig und finster.
»Seine Personalkarte? … Sie müssen doch eine Personalkarte haben …«
»Keine eigentliche Karte … Wenigstens nicht für das sogenannte Speisesaalpersonal, das oft wechselt.«
Sie mußten ins Sekretariat gehen, wo zu dieser Stunde niemand war. Trotzdem ließ sich Maigret die Bücher geben und fand, was er suchte:
›Pepito Moretto, Hotel Beauséjour, Rue des Batignolles 3. Eingetreten am …‹
»Verbinden Sie mich mit dem Hotel Beauséjour.«
Unterdessen befragte er einen anderen Angestellten und erfuhr, daß Pepito Moretto auf Empfehlung eines italienischen Oberkellners seine Stelle drei Tage vor der Ankunft der Mortimer-Levingstons im Majestic angetreten hatte. Man hatte an seiner Arbeit nichts auszusetzen. Er war zunächst im Speisesaal eingesetzt gewesen und dann, auf eigenen Wunsch, beim Zimmerdienst.
Das Hotel Beauséjour war am Apparat.
»Hallo! … Kann ich bitte mit Pepito Moretto sprechen? … Hallo! … Was sagen Sie? … Mit seinem Gepäck? … Morgens um drei? … Danke! … Hallo! … Noch eine Frage … Kam seine Post zu Ihnen? … Niemals Briefe? … Danke, das ist alles.«
Und Maigret legte mit gewohnter Ruhe wieder auf.
»Wie spät ist es?« fragte er.
»Zehn nach fünf.«
»Rufen Sie mir ein Taxi.«
Er gab dem Chauffeur die Adresse des Pickwick’s.
»Sie wissen, daß die um vier Uhr schließen?«
»Das spielt keine Rolle!«
Der Wagen hielt vor der Bar, deren Läden geschlossen waren. Unter der Tür drang Licht hindurch. Maigret wußte, daß in den meisten Nachtlokalen das manchmal über vierzigköpfige Personal gewöhnlich noch zu Abend ißt, bevor es nach Hause geht. Das Mahl wird in dem Raum eingenommen, den die Gäste eben verlassen haben, während die Luftschlangen schon weggekehrt werden und sich die Putzfrauen an die Arbeit machen.
Trotzdem klingelte er nicht im Pickwick’s. Er drehte der Bar den Rücken zu und steuerte eine Kneipe an der Ecke der Rue Fontaine an, wo im allgemeinen die Angestellten der Nachtlokale abends zwischen zwei Jazz-Stücken oder später in der Nacht hinkamen.
Das Bistro hatte noch auf. Als Maigret es betrat, lehnten drei Männer an der Theke, tranken Kaffee mit Schuß und unterhielten sich über ihre Geschäfte.
»Ist Pepito nicht hier?«
»Er war da …«
Der Kommissar sah, wie einer der Gäste, der ihn vielleicht erkannt hatte, dem Inhaber ein Zeichen gab, daß er seinen Mund halten sollte.
»Ich war um zwei mit ihm verabredet …«, fuhr er fort.
»Der ist schon lange weg!« erwiderte der Wirt.
»Ich weiß! … Ich habe ihm von dem Tänzer drüben was bestellen lassen.«
»José?«
»Ja. Er sollte Pepito ausrichten, daß ich nicht frei bin.«
»José ist auch hier gewesen … Ich glaub, die haben miteinander gesprochen …«
Der Mann, der dem Wirt ein Zeichen gegeben hatte, trommelte mit den Fingern auf die Theke. Er war blaß vor Wut, denn diese wenigen Sätze im Bistro genügten, um das Vorgefallene zu erklären.
Um zweiundzwanzig Uhr oder kurz zuvor hatte Pepito im Majestic Torrence ermordet.
Er mußte haargenaue Instruktionen gehabt haben, da er unter dem Vorwand, einen Anruf von seinem Bruder bekommen zu haben, gleich darauf seine Arbeitsstelle verließ, sich zu der Kneipe an der Ecke der Rue Fontaine begab und dort wartete.
Zu einem bestimmten Zeitpunkt überquerte der Eintänzer, der soeben José genannt wurde, die Straße und überbrachte ihm eine Botschaft, die leicht zu erraten war: auf Maigret zu schießen, sowie dieser das Pickwick’s verließ.
Mit anderen Worten: innerhalb weniger Stunden zwei Verbrechen, und die einzigen Personen, die der Bande des Letten gefährlich werden konnten, waren beseitigt.
Pepito schießt und flieht. Sein Auftrag ist erfüllt. Er ist nicht gesehen worden. Er kann also im Hotel Beauséjour seine Sachen holen …
Maigret zahlte, ging, drehte sich beim Verlassen des Lokals noch einmal um und sah, wie die drei Gäste den Wirt mit Vorwürfen bombardierten.
Er klopfte an die Tür des Pickwick’s. Eine Putzfrau öffnete.
Wie er angenommen hatte, aß das Personal an einer langen Reihe von Tischen, die zusammengestellt worden waren. Er sah Reste von Hähnchen, Rebhühnern, Süßspeisen, lauter Sachen, die die Gäste nicht verzehrt hatten. Dreißig Gesichter wandten sich dem Kommissar zu.
»Ist José schon lange weg?«
»Natürlich! … Gleich nachdem …«
Aber der Geschäftsführer erkannte den Kommissar, den er selbst bedient hatte, und gab dem Sprecher einen Stoß mit dem Ellbogen.
Maigret spielte diese Komödie nicht mit.
»Seine Adresse! Und zwar genau, ja! Sonst wird es Ihnen noch leid tun …«
»Ich weiß nicht … Nur der Inhaber …«
»Wo ist er?«
»Auf seinem Gut, in La Varenne.«
»Geben Sie mir die Angestelltenliste!«
»Aber …«
»Ruhe!«
Man tat so, als suche man in den Schubladen eines kleinen Schreibtischs, der hinter dem Orchesterpodium stand. Maigret schob die Leute beiseite und fand auch sogleich das Verzeichnis, in dem er las:
›José Latourie, Rue Lepic 71.‹
Gewichtig, wie er gekommen war, ging er wieder, während die Kellner, etwas beunruhigt, weiter aßen.
Bis zur Rue Lepic waren es nur ein paar Schritte. Aber die 71 befand sich ziemlich weit oben auf der steil ansteigenden Straße. Zweimal mußte er stehenbleiben, weil ihm der Atem ausging.
Schließlich stand er vor einem Wohnhaus in der Art des Hotels Beauséjour, nur noch schäbiger, und klingelte. Die Tür ging automatisch auf. Er klopfte an ein Guckfenster, und ein Nachtportier kam nach einer Weile aus seinem Bett.
»José Latourie?«
Der Mann sah auf eine Tafel, die am Kopfende seines Feldbetts hing.
»Noch nicht zu Haus! Sein Schlüssel ist hier …«
»Geben Sie her! Polizei …«
»Aber …«
»Schnell!«
Tatsächlich hatte ihm in dieser Nacht niemand Widerstand geleistet, obwohl es ihm an der gewohnten Strenge und Härte fehlte. Doch vielleicht fühlte man undeutlich, daß das noch schlimmer war.
»Welche Etage?«
»Vierte.«
In dem langen schmalen Zimmer roch es muffig. Das Bett war nicht gemacht. José mußte, wie viele seinesgleichen, bis vier Uhr nachmittags geschlafen haben, denn danach weigern sich die Vermieter, die Zimmer in Ordnung zu bringen.
Ein alter, am Hals und an den Ellbogen abgetragener Pyjama war auf das Bettzeug geworfen. Am Boden lagen ein Paar Tanzschuhe mit aufgerissenen Hacken und durchlöcherten Sohlen, die wohl als Hausschuhe dienten.
In einer kunstledernen Reisetasche befanden sich nur alte Zeitungen und eine schwarze geflickte Hose.
Auf dem Waschtisch ein Stück Seife, ein Salbentopf, Aspirin-Tabletten und ein Röhrchen Veronal.
Am Boden ein zusammengeknülltes Stück Papier, das Maigret aufhob und vorsichtig auseinanderfaltete. Er brauchte nur kurz daran zu riechen, um zu wissen, daß es Heroin enthalten hatte.
Nachdem der Kommissar eine Viertelstunde alles durchsucht hatte, entdeckte er im Rips des einzigen Sessels ein Loch, steckte seinen Finger hinein und zog nacheinander elf Päckchen derselben Droge heraus, die jeweils ein Gramm enthielten.
Er steckte sie in seine Brieftasche und ging wieder hinunter. An der Place Blanche wandte er sich an einen Polizisten, gab ihm Anweisungen, und der Gendarm bezog in der Nähe der Hausnummer 71 Posten.
Maigret entsann sich des schwarzhaarigen jungen Mannes: ein ungesund aussehender Gigolo mit unsteten Augen, der vor Aufregung gegen seinen Tisch gestoßen war, als er auf dem Rückweg von seinem Treffen mit Moretto an ihm vorbeiging.
Er hatte nach der Tat nicht gewagt, nach Hause zurückzukehren, und es vorgezogen, seine wenigen Klamotten und die elf Beutelchen dazulassen, obwohl jedes einzelne gut tausend Francs wert war.
Der würde sich eines Tages fangen lassen, denn er hatte keinen Mumm, und er mußte von Angst gepeinigt sein.
Pepito dagegen war kaltblütig. Vielleicht wartete er auf einem Bahnhof auf die Abfahrt des ersten Zuges. Vielleicht hatte er sich in einen Vorort verkrochen oder einfach das Stadtviertel und das Hotel gewechselt.
Maigret rief ein Taxi herbei und hätte beinahe die Adresse des Majestic angegeben. Doch er rechnete sich aus, daß sie dort noch nicht fertig wären. Mit anderen Worten: Torrence lag weiterhin in dem Zimmer.
»Quai des Orfèvres …«
Als er an Jean vorbeiging, merkte er, daß der schon Bescheid wußte, und wie jemand, der sich schuldig fühlt, wandte er den Kopf ab.
Er beschäftigte sich nicht mit seinem Ofen. Er zog weder die Jacke aus, noch nahm er den Kragen ab.
Zwei Stunden lang saß er mit aufgestützten Ellbogen an seinem Schreibtisch, und es wurde hell, als er daran dachte, eine Nachricht zu lesen, die ihm im Verlauf der Nacht hingelegt worden sein mußte.
Für Kommissar Maigret, Dringend.
Ein Mann im Frack hat gegen halb zwölf das Hotel Roi de Sicile betreten und sich dort zehn Minuten aufgehalten. Abfahrt in einer Limousine. Der Russe ist nicht weggegangen.
Maigret zuckte nicht mit der Wimper. Die Nachrichten trafen nun alle auf einmal ein. Zuerst kam ein Anruf vom Kommissariat in Courcelles:
»Ein gewisser José Latourie, Eintänzer, ist in der Nähe des Eingangs zum Park Monceau tot aufgefunden worden. Er weist Spuren von drei Messerstichen auf. Seine Brieftasche wurde ihm nicht gestohlen. Wann und unter welchen Umständen das Verbrechen begangen wurde, ist unbekannt.«
Maigret dagegen wußte es. Er stellte sich sofort Pepito Moretto vor, der den jungen Mann, als er das Pickwick’s verließ, für zu erregt gehalten und befürchtet hatte, daß er sich verraten würde. Und so hatte er José kurzerhand ermordet und sich – vielleicht ja nur aus Trotz – nicht einmal die Mühe gemacht, ihm Brieftasche und Ausweis wegzunehmen.
›Sie glauben, uns durch ihn fangen zu können? Hier ist er!‹ schien er zu sagen.
Halb neun. Am Telefon der Geschäftsführer des Majestic.
»Hallo? … Kommissar Maigret? … Es ist unglaublich, unerhört! Vor wenigen Minuten hat die 17 angerufen … Die 17! … Erinnern Sie sich? … Derjenige, der …«
»Oswald Oppenheim, ja … Und?«
»Ich habe einen Kellner hinaufgeschickt … Oppenheim hat im Bett gelegen, als ob nichts passiert sei, er hat sein Frühstück verlangt …«